Bertl Petrei
DAS WINDISCHE – ein letzter Versuch
Der Titel ist mit Bedacht gewählt. Ich habe mir vorgenommen, nicht mehr von »den Windischen«, von ihrem »Bekenntnisrecht« und dergleichen zu reden. Der Stolz darauf, mit dem Bekenntnis ein Windischer zu sein, stets prompt »auf beiden Seiten anzuecken«, ist mir durch Spott, Liebesentzug, Beschimpfung, ja Verfolgung gründlich ausgetrieben worden. Aber nicht deswegen spreche ich heute nicht davon, sondern weil ich nach zahllosen Bemühungen das Gefühl habe, daß »dieser Zug abgefahren ist« (wie ich lieber formulieren möchte als Ralf Unkart mit seiner »toten Katz« in dem dubiosen Interview mit »Naši razgledi«, Ljubljana 1990).
Immerhin haben sich zuletzt – obwohl dafür keine Propaganda wie für »Deutsch« oder »Slowenisch« gemacht wurde – noch über 2000 Kärntner zum Windischen bekannt; was nach internationalen Maßstäben bei weitem für eine »Sprachminderheit« reichen würde. Doch fasse ich das keineswegs als ethnisches, nicht als ein politisches Bekenntnis auf, sondern als ein rein kulturelles. Zumindest für den Ethnologen - meines Erachtens auch für den Sprachwissenschafter – muß nur die Mundart der Volkskultur zugerechnet werden; die Schriftsprache, ein Konstrukt, genau genommen der Hochkultur. Daher ist das, was Marjan Sturm 1994 bei einer Diskussion in Tainach gesagt hat, zwar ein großer Fortschritt in den Bemühungen um das Gemeinsame, auch nicht unrichtig, aber unscharf.
»Dadurch, daß wir gemeinsam hier leben, haben wir uns vermischt. Das spiegelt sich auch in der Volkskultur wider... Daher sage ich: Es gibt sie nicht. Es gibt nicht zwei total zu unterscheidende Volkskulturen in Kärnten. Es gibt nur eine Kultur in Kärnten, die in zwei Sprachen ausgedrückt wird. Und ich glaube, daß genau das die entscheidende Frage ist. ..«
Das, was ich Unschärfe genannt habe, ist in dieser Aussage durch den plötzlichen Sprung vom Teilbereich Volkskultur zum Gesamtbereich Kultur entstanden. In der Hochkultur Kärntens, insbesondere natürlich in der Literatur, gibt es zwei Hochsprachen: das Slowenische und das Deutsche. Die Volkskultur hat viele Sprachen, die Mundarten, aber nur eine gemeinsame: die windische Mundart (die der Windische übrigens in ihr selbst nicht so, sondern als »po domacem«, etwa: »wie man zu Hause spricht«, genannt hat).
Gestatten Sie, liebe Leserinnen und Leser, daß ich an dieser Stelle zwei illustrierende Geschichten einschiebe, bevor ich die Gedanken zur Sturm-Aussage weiterführe:
Ich bin, wie die »Kokolore«-Leser wissen, bei den mütterlichen Großeltern und somit durch die Einsprachigkeit meiner Großmutter - die mangels Schulbesuch weder deutsch noch slowenisch gelernt hatte - windisch aufgewachsen, das Windische ist meine Muttersprache (fast ausnahmslos ist das ja eine Mundart oder doch eine Umgangssprache). In der Bleiburger Volksschule war ein Jahr hindurch ein Bub vom Kömmel droben mein Sitznachbar. Wir hatten zwei verschiedene Hochsprachen (wobei er sich die seine damals in der Schule nicht aneignen konnte), aber eine gemeinsame Muttersprache, die Mundart - in der wir uns außerhalb des Unterrichtes unterhielten und nicht nur sprachlich bestens verstanden.
Die zweite Erinnerung: vor gut einem Jahrzehnt verbrachten meine Frau (Lavanttalerin) und ich einige Sommerwochen in einem uns von Verwandten zur Verfügung gestellten Haus zwischen Pörtschach und Velden. Den Ort und den Namen der beiden anderen handelnden Personen nenne ich aus Rücksicht darauf, daß der Mann in einem öffentlichen Betrieb arbeitet, nicht. Das Paar bewohnte das dicht benachbarte Haus; zwischen uns lag nur ihr Küchengärtlein und ein schmaler Streif Wiese. Da die beiden sich – besonders bei den nicht seltenen Auseinandersetzungen – recht lautstark unterhielten, hörten wir nolens volens mit. Wir verstanden nur einiges, aber jedenfalls, in welcher Sprache die Unterhaltung geführt wurde. Nämlich im Hause windisch, im Freien deutsch. Sobald einer die Schwelle nach draußen überschritt - sie, um etwa ein Küchenkräutl im Garten zu holen, er, wenn er zur Arbeit ging -, wechselte derjenige ins Deutsche, drin gabs nur das Windische. Nie habe ich den Unterschied zwischen dem po domacem und öffentlicher Verkehrssprache so deutlich erlebt. Mein unvergeßlicher Lehrer, der große Mundartforscher Eberhard Kranzmayer, hätte seine helle Freude an diesem Demonstrandum gehabt.
Damit zu der erwähnten Diskussion. Denn da es wie leider immer um Politik und nicht um Kultur geht, entwickelte sich um die Sturm-Aussage eine Auseinandersetzung zwischen den beiden slowenischen Verbänden. Im »Naš tednik« vom 21. Oktober 1994 unterstellte Matthäus Grilc Sturm, dieser »befürworte eine Art modernes Windischentum«, indem er behaupte, »daß die zweisprachigen Kärntner eine eigene nationale Kategorie darstellen«. Damit kommen wir, wenn wir die politische Polemik übergehen, der »entscheidenden Frage« näher. Die Volkskunde hat längst festgestellt, daß beim Zusammenleben einer ethnischen Mehr- und einer Minderheit neben Behauptung und Assimilation ein drittes passiert: Es entsteht eine neue, eine Mischkultur. Mit diesem Thema hat sich etwa schon 1978 ein Minderheiten-Symposion der übernationalen Arbeitsgruppe »Ethnographia Pannonica« im burgenländischen Bernstein ausführlich auseinandergesetzt. Gerade die Befassung mit solchen Mischkulturen, ja mit einzelnen Mischformen ist wichtig für das »vornehmste Anliegen der Volkskunde« – wie der ungarischösterreichische Ethnograph Karoly Gaal im Vorwort der Druckwiedergabe der Bernsteiner Vorträge und Diskussionen betonte - »bei der Erforschung der traditionellen Kultur das zu erkennen, was die Völker Europas miteinander verbindet, und nicht das zu suchen, was sie trennt« (Hervorhebungen von mir). Daß das weit schwieriger ist als die Erforschung des Besonderen und Besondernden, war allen Teilnehmern klar. Sie bemühten sich redlich – wie Wissenschafter immer – und wie immer ohne irgendwelche Kenntnisnahme durch die Politiker.
Peter Gstettner führt in einem Artikel »Die letzten Mohikaner« («Forum«, 1958) den »unerklärlichen Schwund« der slowenischen Volksgruppe (der tatsächlich nicht mehr mit der »natürlichen Assimilation« erklärt werden kann) darauf zurück, daß »die Slowenen unter dem herrschenden deutschnationalen Druck immer wieder isoliert und fraktioniert (Hervorhebung von mir) wurden«. Mit letzterem meint er »die assimilationswilligen, deutschfreundlichen Slowenen, für die man einen eigenen ,wissenschaftlichen' Ausdruck erfand - die Windischen«. Sie konnten »schon zuvor (bei der Volksabstimmung von 1920) abgespalten werden«. Ich will mich nicht mit der nachgewiesen unrichtigen Behauptung von den »,wissenschaftlich' erfundenen Windischen« auseinandersetzen - das ist wie gesagt nicht mein Thema. Aber ich muß zurückblenden auf die Zeit unmittelbar vor der Abstimmung: Wie man in jeder GedenkAusstellung feststellen kann, waren in der Propaganda beide Seiten heftigst um die Windischen bemüht. Schon seit meiner Gymnasialzeit ist mir etwa der Text eines jugoslawischen Plakates wortwörtlich in Erinnerung (wohl auch, weil er tatsächlich Witz hat): »Deitsch Koroška mre (muß) bleiben, / Windische pa vse (aber alle) vertreiben. l Deitsche Nobel im Verkehre, / Nix mehr Windisch, habdieehre!« Auch der Kärntner Heimatdienst wandte sich immer wieder in der windischen Mundart an die Unterkärntner. Nachher war alles anders. Die Windischen wurden, so Valentin Einspieler 1957, »von den nationalbewußten Slowenen in abfälliger Weise nemcurji, d. h. Deutschtümler, genannt.« Hinzuzufügen: oder »Verräter«. Diese Ächtung, diese Verstoßung (merkwürdigerweise ja auch derjenigen, die für Jugoslawien gestimmt hatten!) trug entscheidend zu dem »unnatürlichen Schwund« der slowenischen Volksgruppe bei. Obwohl sie ihr Gegenstück auf der anderen Seite hatte; Einspieler fügt hinzu: »Den Deutschen Kärntens scheint die Scheidung in Slowenen und Windische von belangloser Natur.« Letztere wurden von deutschnationaler Seite einfach als »windisch sprechende Deutsche« vereinnahmt. Wieder eine Erinnerung: Meine »Bica« (Großmutter) erklärte oftmals, sie habe »für Österreich gestimmt«. Aber am 10. Oktober sperrte sie stets die Türen zu und ging nicht aus dem Haus. Als ich sie, größer und neugieriger geworden, nach dem Grund fragte, sagte sie zornig: »Tisti (die da) feierji, pa mi smu (aber wir haben) Abstimmungu gwinali«!
In der Tat haben die Windischen (Gstettner: »diese Gruppe machte 2/3 der slowenischen Bevölkerung aus«) den Ausgang der Volksabstimmung entschieden, indem sie mehrheitlich für den Verbleib bei Österreich stimmten. Aber das war schon damals keine politische Entscheidung, auch kaum eine wirtschaftliche (dazu war die Wirtschaftslage der jungen Republik Osterreich zu miserabel), sondern eine kulturelle. Es war ein Bekenntnis, behaupte ich, zur Bikulturalität, ja zu gesunder Multikulturalität - auch wenn diese Menschen unsere neumodischen Begriffe noch gar nicht gekannt haben.
Damit komme ich – ermutigt durch Äußerungen von Besinnung, Vernunft, Sachlichkeit und Gemeinsamkeit in letzter Zeit – zu meinem Anliegen: das Thema Windisch zu entpolitisieren, es gewissermaßen zu historisieren, als historische Gemeinsamkeit zu legalisieren. Und damit zu einem, aber zu einem ganz wichtigen Schritt zu einer, wenn diese Steigerung erlaubt ist, »gemeinsameren« Zukunft. Von vielen volkskulturellen Erscheinungen, vor allem vom Brauchgut (vom Eisenkuppler Kirchleintragen etwa oder vom Gailtaler Kufenstechen) wissen wir heute – dank der »Europäischen Ethnologie«, zu der sich die Volkskunde entwickelt hat –, daß sie nicht nur beiden Volksgruppen in Kärnten gehören, sondern gemeinsames europäisches Kulturerbe sind. Aber diese gemeinsame Sprache, die Mundart po doma/cem, das ist eine einzigartige Kulturleistung unserer windischen und bajuwarischen Vor fahren, wie Kranzmayer immer wieder hervorgehoben hat. Für abertausende Kärntner, nicht nur solche mit slowenischer, sondern auch solche mit deutscher Schriftsprache, bleibt das Windische ihre Muttersprache – auch für mich.
Unzählige Leser haben mir auf meinen »Kokolore« und meine Artikel in Zeitschriften und Zeitungen hin geschrieben, viele haben mir ihre liebevollen Sammlungen von besonderen und vom Vergessen bedrohten windischen Wörtern und Wendungen geschickt. Eben jetzt wieder die Rosentaler Mundartdichterin Mathilde Ressmann. Wieder habe ich da viele mir unbekannte oder entschwundene Ausdrücke von kultur- geschichtlichem Wert gefunden – nicht nur deutsche und slowenische Lehnwörter, auch Windisches, das nur noch in Deutschkärntner Mundarten lebendig ist, und altslawisches und germanisches Sprachgut, das wir weder in der slowenischen, noch in der deutschen Hochsprache finden. Aus all den Briefen, den Kommentaren zu den Sammlungen, den Gesprächen darüber spricht die innige Liebe, die Hochschätzung für diese (ich muß es nochmals sagen, weil dieses oft mißbrauchte Wort ganz zutreffend ist) einzigartige Sprache. Besonders für jene Kärntner, die wie ich außerhalb Kärntens leben müssen, ist sie wesentlicher Bestandteil ihres Heimatbildes – ihres Heimwehs.
Deshalb spreche ich nicht wie Ingomar Pust in der »Kärntner Landsmannschaft« 11/1985 von einem »Denkmal für die Windischen«, sondern in einem letzten Versuch vor einem für das Windische. Kein Zeitpunkt wäre, abgesehen davon, daß er wohl der letzte ist, dafür geeigneter als diese Epoche, in der wir in Europa auch in der Erforschung und Darstellung der Volkskultur nach dem Gemeinsamen statt nach dem Trennenden suchen, nach der »Heimat Europa«. Sollten wir da nicht in unserer gemeinsamen Heimat Kärnten eine der wichtigsten Gemeinsamkeiten gemeinsam annehmen, gemeinsam stolz sein auf die große Kulturleistung unserer Vorfahren: das Windische – po doma/cem?!

Aus. Die Kärntner Landsmannschaft; 1995